Elsbeth Arlt
 

Leseprobe

So kam Gertrude Stein in die Rote Straße

Silke Radenhausen
»Elsbeth Arlts Textlandschaften«


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Silke Radenhausen  |  Elsbeth Arlts Textlandschaften

So kam Gertrude Stein in die Rote Straße

[…]
Wie schaut man zurück. Indem man nach vorn schaut. Und was sehen sie. Wie sie nach vorn schauen. Sie sehen, was sie tun mußten bevor sie zurückschauen konnten. Und da haben wirs.

Die ins Deutsche übertragenen Sätze von Gertrude Stein können wir in einem vierstöckigen Treppenhaus lesen, in einem Wohnhaus in Flensburg in der Roten Straße. In grauen Lettern auf gelbem Grund laufen sie an den Wänden vom Keller bis hinauf ins Dachgeschoss. Elsbeth Arlt zitiert aus »Gedanken zu einem zeitgenössischen amerikanischen Gefühl« (1931). (2) Dabei geht es unter anderem um die Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift ›transition‹, warum Amerikaner im Ausland (Europa) leben würden.

Im Treppenhaus, beim Aufstieg lesen wir die einzelnen Satzteile linker Hand, beim Abstieg rückwärts rechter Hand. Wir laufen im Inneren einer Satzspirale hinauf. Um alles lesen zu können, müssen wir aufsteigen vom Keller bis unters Dach. Oben angekommen: »Und da haben wirs.«. Aber was haben wir? Wir schauen zurück, dahin, wo wir von vorn geschaut haben. Wir gehen zurück, wir steigen ab in die Tiefe bis in den Keller, um noch einmal den Gipfel zu erklimmen. Gemeint mit sie sind bei Gertrude Stein die Amerikaner im eigenen Land. Es geht um Amerikas Geschichte über das 19. Jahrhundert hinweg, um »ungleichzeitige Zeitgenossenschaft« in »ästhetischen Sachen« (Gertrude  Stein). Aber das wissen wir ja nicht beim Hinaufsteigen. Wir tun, was an der Wand geschrieben steht, schauen vorwärts, schauen zurück, den Kopf nach links oder rechts geneigt. Satzteile verschlingen sich in unseren Köpfen mit Farben, Buchstaben, Wörtern. Unser Körper steigt einem linearen Sinnzusammenhang hinterher, Turbulenzen im Kopf.

Ein Kernproblem bei Gertrude Stein – sie spricht davon insbesondere in ›Plays‹ (1934) – ist die Spannung zwischen der Zeit der Inszenierung einer Handlung auf der Theaterbühne und der ästhetischen Erfahrung der Zuschauer. Niemals wird die emotionale Zeit des Publikums emphatisch in der Zeit des Bühnengeschehens aufgehen. Die Zuschauer haben es immer mit der Gleichzeitigkeit verschiedener visueller und auditiver Zeichen zu tun, deren tableauhafte Wahrnehmung einer linearen Handlung im Wege stehen. Um dem zu entgehen, schlägt Stein ein Theater vor, das wie eine Landschaft ausgebreitet wäre. »I felt that if a play was exactly like a landscape then there would be no difficulty about the emotion of the person looking on at the play being behind or ahead of the play because the landscape does not have to make acquaintance. (…) The landscape has it formation and as after all a play has to have formation and be in relation one thing to the other thing (…) always in relation, the trees to the hills the hills to the fields the trees to each other any piece of it to any sky and then any detail to any other detail …« (3)

Gertrude Steins ›Plays‹ beeinflusst nicht nur das Avantgarde-Theater sondern ebenso gegenwärtige Formen der Installationskunst, die häufig auf die Herstellung von Spannung zielen zwischen der Zeit des Durchlaufens einer Kunst-Szenerie und der Zeit der ästhetischen Erfahrung der Ausstellungsbesucher. (4) Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, dass Gertrude Steins geschriebene Texte selbst gewissermaßen schon die Landschaft sind. Ihre Schreibe emanzipiert den Satzteil gegenüber dem Text, das Wort gegenüber dem Satzteil, das phonetische Potenzial gegenüber dem semantischen, den Klang gegenüber dem Sinnzusammenhang. Jedes kann mit jedem eine Beziehung eingehen wie auf einem Bild. Steins Organisation eines Textes fordert ein Lesen heraus, das zwischen den verschiedenen Elementen ein diskontinuierliches Spiel sich durchkreuzender Verknüpfungen in Gang setzt (cross reading).

Es ist die ästhetische Erfahrung im Lesen, die den Text in Bewegung setzt, und nicht mehr ein im Text dargestellter zeitlicher Verlauf der Handlung. Elsbeth Arlt treibt damit ein ironisches Spiel. Der Akt des Lesens ist beim Treppensteigen aufs Prägnanteste zurückübersetzt in Zeit und körperliche Anstrengung. Doch scheint das gelenkte Erklimmen des oberen Stockwerks von Treppenabsatz zu Treppenabsatz, von Satz-Ebene zu Satz-Ebene immer noch relativ gradlinig auszufallen im Verhältnis zu den subtilen Variationen und Wiederholungsschleifen »in ästhetischen Sachen« in unseren Köpfen. Arlts räumliche Dramaturgie, beim Treppensteigen Ausblicke auf die Tableaus eines Textes anzubieten, der scheinbar nur das sagt, was wir tun: hinauf und hinab steigen, rückwärts und vorwärts schauen, wobei wir ja nicht wissen, dass ein vorwärts und rückwärts Schauen durch die Jahrhunderte gemeint ist, und das unbestimmte Gefühl, oben angekommen ins Leere zu laufen – »Und da haben wirs.«, all diese Erfahrungen sind nicht nur für Stein-Kenner allemal eine Reise nach Flensburg wert. […]

(2) Robert Bartlett Haas (Hg.): Lesebuch zum allmählichen Kennenlernen von Gertrude Stein, Frankfurt, 1994, S. 103
(3) Juliane Rebentisch: Der Zeitraum des Landschaftstheaters (Gertrude Stein) in: Ästhetik der Installation, Frankfurt, 2003,
S. 156 ff.
(4) siehe J. Rebentisch zu Iljya Kabakov, ebd. S. 162

aus: Elsbeth Arlt, »Realität in den Regalen: Fußnote, Vermerk, Widmung«. Hrsg. v. der Universität der Künste Berlin und Elsbeth Arlt, Berlin 2005,
S. 37–40