Elsbeth Arlt
 

Leseprobe

Gesammelte Werke

Dorothee Bieske
»Elsbeth Arlt ›gesammelte Werke‹«


Elisabeth Vorderwülbecke
»Über … Malerei und Poesie«


Publikationen

Elisabeth Vorderwülbecke  |  »Über … Malerei und Poesie«


Im Jahr 1766 veröffentlichte Gotthold Ephraim Lessing seine Betrachtungen »Über die Grenzen der Malerei und Poesie«. Ausgehend von der Laokoon-Gruppe erarbeitet er Regeln und Gattungsgesetze beider Disziplinen, beleuchtet mögliche Wechselwirkungen, Verschränkungen, umkreist ihr Verhältnis von unterschiedlichen Richtungen, sucht Berührungspunkte beziehungsweise Differenzen zu bestimmen. Lessings Postulat vom Vorrang der Poesie gegenüber der bildenden Kunst – »Wenn das Kleinere das Größere nicht fassen kann, so kann das Kleinere in dem Größeren enthalten sein« (1) – wirkt gleichermaßen apodiktisch wie fragil. Die in der »Laokoon«-Schrift spürbare Dialektik, die Spannung zwischen Prämisse und intensivem Ringen um die Beweisführung, gepaart mit Lessingscher Prägnanz, fasziniert als analytischer Ansatz zur Differenzierung der Künste.

Anlässlich Lessings 275. Geburtstags hat Elsbeth Arlt ihre ›gesammelten Werke‹ im Wolfenbütteler Kunstverein inszeniert: ein horizontales, meist 40 cm hohes Seh- und Leseband, bestehend aus 53 Arbeiten, leicht unter Augenhöhe gehängt, erstreckt sich durch drei Räume. Vertikale »Querschläger« erweitern die Ordnung, ermöglichen auch formal Blick- und Gedankenschleifen, Ein- und Ausstieg.

Nach Wahrigs Definition von »sammeln« im Deutschen Wörterbuch ist das Wort mit »zusammentragen, zusammenbringen, zusammenlesen, anhäufen, aufhäufen u. (meist auch) zugleich ordnen; vereinigen« (2) gleichzusetzen. Die Tätigkeit des Sammelns beinhaltet Zufall und Ordnung, bedeutet offenes Konzept, setzt auf Erweiterung eines Anfangs, einer »Idea«, gibt eine »Nöthige Antwort«, aber die 1. Folge, auf eine Vorgabe: Lessing. Dieser schaut uns in die Augen, er nimmt uns in den Blick, begrüßt uns freundlich, einladend. Ein klarer, sorgsam bereiteter Malgrund, schichtenweise aufgetragen. Ein vertikal gesetzter Balken gibt Begrenzung – keine nebulöse Verehrung bitte!

»Siehe Seite« – Sehen und Lesen. Wir lesen erste Zeilen aus Briefen von Lessing an Eva König und erfahren was er eigentlich schon längst hätte tun wollen, sollen. Zugleich sehen wir, wie aus Farbe heraus Handschrift entstanden ist. Elsbeth Arlt schreibt malend beziehungsweise malt schreibend. Text wird zum Bild, aber wird das Bild zum Text? Lesen wir ein Bild, oder sehen wir einen Text? (3) Berühren sich die Tätigkeiten des Sehens und des Lesens auf einer zweiten Ebene, der gedanklichen Reflektion? Der Schriftsteller, Bibliothekar, Kritiker, Theoretiker, Theatermacher Lessing erforscht im 18. Jahrhundert Differenzen. Elsbeth Arlt beschreitet mit ihrer Kunst andere Wege. Malerei ist kein Argument. Arlt benutzt Sätze, Begriffe Lessings, recycelt sie im neuen Kontext, spielt mit ihnen, breitet Variationen und Kombinationen von Farbe, Wort, Schriftform aus. […]

(1) Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, (1766). Mit einem Nachwort von Ingrid Kreuzer, Reclam Stuttgart 2003, S. 54
(2) Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann 1980, S. 3162
(3) Oskar Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik, Darmstadt 1986, S. 31ff; s.a. Lutz Jahre, Stillstand und Bewegung: Zeit in Büchern, Elsbeth Arlt, in: Lutz Jahre, Unlimited Edition, Künstler – Bücher – Bibliotheken, 19 Porträts, Köln 2001,
S. 27–39

aus: Elsbeth Arlt, »gesammelte Werke«. Hrsg. v. Kunstverein Wolfenbüttel und Elsbeth Arlt, Wolfenbüttel 2004