Elsbeth Arlt
 

Leseprobe

Jeder Tag ist anders

Matthias Mühling
»Twenty-four Years: From 1974–1998«


Dorothee Bieske
»Tagewerke – Zu den Aufzeichnungen von 1974–2003«


Publikationen

Matthias Mühling  |  Twenty-four Years: From 1974–1998


Ein Gemälde von 1998. Es zeigt ein kariertes Blatt Papier, darauf ein gemaltes weiß-rotes Buch, auf dem Einband das Fragment des Buchtitels in einer regelmäßigen Schrifttype: »Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972: a cross-reference book of information on some esthetic boundaries:«. Oben auf dem Blatt im handschriftlichen Gestus: »10/10/74« und unten im gleichen Gestus die Buchstabenfolge: »keine Arbeit«. Das Gemälde ist die Übertragung einer Aufzeichnung von Elsbeth Arlt, die bereits im Jahr 1974 entstanden ist.

Im Zentrum der Zeichnung, genauso wie im Gemälde, steht ein Buch, dessen vollständiger Titel deutlich länger als der abgebildete ist: »Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972: a cross-reference book of information on some esthetic boundaries: consisting of a bibliography into which are inserted a fragmented text, art works, documents, interviews, and symposia, arranged chronologically and focused on so-called conceptual or information or idea art with mentions of such vaguely designated areas as minimal, antiform, systems, earth, or process art, occurring now in the Americas, Europe, England, Australia, and Asia (with occasional political overtones), edited and annotated by Lucy R. Lippard.« Dieser Bandwurmtitel ist eher als Übertreibung eines Titels aufzufassen, der auf das Thema des Buches, die Concept Art, Bezug nimmt und die dokumentarische Studie schon im Titel als ein neuartiges konzeptionelles Experiment ausweist. Das Buch war 1974, als Elsbeth Arlt es gezeichnet hatte, eines der wirkmächtigsten Bücher, da es ohne jegliche historische Distanz den Versuch unternahm, die wichtigste Bewegung der zeitgenössischen Kunst in einer essayistischen Materialsammlung zu fassen.

Nicht von ungefähr beziehen sich Zeichnung und Gemälde auf diese Inkunabel der Concept Art, da die Zeichnung zeitgleich im Kontext dieser Erneuerungen der Künste entstanden ist und das Gemälde von 1998 als Fortführung dieser heute bereits klassisch gewordenen Tradition begriffen werden kann. Konzeptionell an diesen Arbeiten ist zum einen, dass das abgebildete Buch in Zeichnung und Gemälde selbstreferenziell auf seine eigene Referenz Bezug nimmt. Zum anderen aber auch, dass die Leitmotivik der Arbeiten von Elsbeth Arlt entlang einer Synthese von schriftlichen und bildlichen Zeichen entwickelt ist. Denn Lucy R. Lippard beschreibt in ihrem Buch eine Entwicklung in der Kunst des 20. Jahrhunderts, deren großes Thema eine Kunstform ist, die durch Verwendung unterschiedlichster Aggregatzustände der Sprache und nicht durch ihre bildlichen Qualitäten zu Nachruhm gekommen ist. Die Concept Art ist jedoch nur ein vorläuï¬?ger Höhepunkt innerhalb der Geschichte der Koexistenz von Bild und Schrift, deren historische Vorläufer bis zu den Hieroglyphen oder den inzwischen zum Topos geronnenen »Ut pictura poesis« des Horaz zurückreichen. Die Amalgamierung der Poesie mit der Malerei durch Horaz hat die vorher streng geschiedenen Disziplinen auf ewig als Schwesterkünste vereint, die von nun an wechselseitig voneinander lernen konnten. […]

aus: Elsbeth Arlt, »Jeder Tag ist anders«. Hrsg. v. Museumsberg Flensburg, Flensburg 2004, S. 7–8