Elsbeth Arlt
 

Leseprobe

mich wundert's

Verena Hupasch
Katalogbeitrag »Apokalypse now or never!«


Publikationen

Verena Hupasch  |  Apokalypse now or never!

 

Die Apokalypse von Dürer ist etwas so Großartiges, sie ist durch die Jahrhunderte gestürmt und hat bis heute nichts von ihrer darstellerischen Überzeugungskraft verloren. Immer noch klagen, zürnen und beten die Figuren laut, die Hufschläge unter den schreckensbringenden Reitern hallen, die Feuer lodern. Die Holzschnitte strotzen vor bildnerischen Einfällen und virtuosem Wahnsinn. Dürer entging nichts, aber auch nicht das Geringste von dem, was er zeigen wollte – keine Falte und keine Spalte. Sein Konzept ist restlos aufgegangen: er schuf das erste von Anfang bis Ende gestaltete Künstlerbuch, eigenhändig entworfen, illustriert und veröffentlicht im Superregal – Format. Die Holzschnitte sind nicht als reine Illustrationen der Offenbarung zu verstehen, sie bilden vielmehr eine Parallelerzählung, die der Schrift des  Johannes gegenübersteht. Entstanden ist eine visionäre Darstellung des Enthüllten auf der Grundlage des biblischen Textes, der für Dürer immer verbindlich bleibt.

Elsbeth Arlt spaziert nun an den Rand dieses schwarzweißen Universums, steckt ihren Kopf durch dessen äußere Sphäre und blickt hinein. Viel interessanter als der Offenbarungstext ist für sie der Anblick der in den Grafiken dargestellten unterschiedlichen Materialitäten, wie sie bereits von Nikola Roem schön beschrieben wurden: die gekräuselten Wolkenbänder und spätgotischen Knitterfalten der bauschenden Gewänder, das üppige Blattwerk, die Schuppen und Felle der Tiere, die Flammenbündel und Rauchfahnen. All dies entsteht aus der einen Linie, die alles zeigen kann, der nichts zu schwer wird, weil sie alles will; ob Grashalm oder Gott – diese Linie kriegt alles zu fassen.

Elsbeth Arlt zerschneidet intuitiv zielgenau dieses gigantomanische Werk von Chaos und Illusion, trennt die für sie relevanten Teile heraus, isoliert  und kombiniert sie, um sie auf große und kleinere Leinwände zu transportieren und mit leichtem und routiniertem Duktus zu malen. Die vergrößerten Teile der Apokalypse wirken erstaunlich lebendig, die gemalte farbige Linie lässt die ursprünglich holzgeschnittenen Teilansichten schwerelos und eine Spur tänzerisch erscheinen. Das Monumentale wird nicht noch monumentaler, sondern malerischer und das macht den Medienwechsel vollkommen plausibel. Niemand denkt mehr an den weiten Weg vom Original über die Reproduktion über die banale Fotokopie als Hilfsmittel hin zur Collage als Werkzeug und  über die Folie für den Overheadprojektor zum gemalten Bild.

Elsbeth Arlt ließ auf den Leinwänden unterschiedlich geformte Flächen frei – für die Montage von Texten aus Zeitungen und Fotos von Demonstranten mit den von ihnen gestalteten Parolen und Symbolen. Als Ersatztext mit ornamentaler Wirkung dienen auf einigen Bildern die global verbreiteten und verschandelnden Plastikstühle als Ausdruck unserer neuen Zeit. Diese wie auch die Wörter wurden genau wie die Bildteile projiziert und gemalt, so dass man vor einer scheinbar in einem Arbeitsgang gewachsenen Mischung aus Collage und Plakat zu stehen meint: präexistente Materialien wurden zu Segmenten einer neuen Textur. Dies gilt auch für das Leintuch mit eingewebter Schrift. (Zwei in der Ausstellung gezeigte Bilder fallen aus diesem Montageschema, eins enthält einen ornamentierten Buchstaben in Kombination mit einer in der Apokalypse verwendeten Skizze, ein weiteres bezieht sich auf die buchgestalterischen Elemente einer Publikation über Dürer aus den vierziger Jahren. Hier werden Wege beschritten, die eine Auseinandersetzung mit der Kunst Dürers in einem anderen Kontext andeuten.)

Die Wortfolgen aus Schlagzeilen, Kommentaren und Slogans bezeichnen unser aller große Krise, die entsprechende Ängste auszulösen scheint, die von den Medien geschürt werden oder ist es nicht vielleicht doch umgekehrt gewesen? Unsere Ängste erscheinen im Vergleich zu den Endzeiterwartungen des spätmittelalterlichen Menschen recht banal:
die Angst der Verbraucher vor dem Verlust von Geld, Arbeitsplatz, Auto und Urlaub, die Angst des Staates vor dem Verlust der Kaufkraft der Verbraucher … was soll das und was ist das im Vergleich zu der Angst des gläubigen Christen vor Hölle und ewiger Verdammnis bei gleichzeitiger Ungeduld, die letzten Dinge zu schauen und zu erleben?

Zu welchem Schluss man hier auch kommen mag: sicher ist, dass einem beim Anblick der Slogans aus dem Obama – Wahlkampf oder von Gewerkschaftsdemonstrationen schon wieder alles unter einer dünnen Staubschicht zu liegen scheint und alle Sprüche könnten sofort durch neue ersetzt werden und die werden morgen auch wieder so alt wie die Zeitung von gestern sein. Man erinnert sich nicht gern an politische Ereignisse und Katastrophen der allerjüngsten Vergangenheit, weil man sich nicht einmal gern an sich selbst erinnert.

Robert Musil beschrieb dieses Phänomen in einem Essay mit dem Titel »Kunstjubiläum« sehr anschaulich: »Dieser Enthusiasmus des Jetzt verbrennt, und sobald er unnötig geworden ist, löscht ihn das Vergessen aus, das eine sehr schöpferische und sehr inhaltsreiche Tätigkeit ist, durch die wir recht eigentlich erst, und fortlaufend immer von neuem, als jene unbefangene, angenehme und folgerichtige Person erstehen, um deretwillen wir alles in der Welt gerechtfertigt finden.« In diesem naiv selbstverliebten Agieren werden wir nur durch die Kunst gestört, weil sie durch reinen Enthusiasmus bestehen und zwischen Rahmen und Buchdeckeln hängen bleibt, als wäre nichts geschehen. Deshalb wirkt ein uraltes ägyptisches Mumienporträt sehr frisch im Vergleich zu einer wochenalten Forderung nach fünf Prozent mehr Lohn.

Indem Elsbeth Arlt die Apokalypse aus dem historischen Kontext löst, kann sie ihrer Faszination über die Dürerschen Einfälle freien Lauf lassen. Die Zeit spielt keine Rolle mehr, sie bringt dem heutigen Betrachter die verrückten Einfälle und absurden Vorgänge innerhalb der Holzschnittfolge näher. Wer sieht sich sonst schon Dürer an? Genau jetzt in der Ausstellung aber muss man hinsehen, sich wundern über Buchfresserei, Sternenregen und kolossale Gegenstände. Kopfschüttelnd blicken die babylonischen Schlangen auf die Plastikstühle, kraftvoll stößt der Erzengel seine Lanze in dieselben. Krieg, Hunger, Pest und Tod rasen um die Wette in Richtung sozialer Gerechtigkeit, während das eine Monster kotzt und das andere alles wieder auffrisst. Surreale Action triumphiert über das Nichtsagbare.  

Auf das sich fortwährend drehende apokalyptische Bilderrad nagelt Elsbeth Arlt die Forderungen und Hoffnungen, die unseren heutigen Ängsten entspringen und fast ausschließlich auf die Erhaltung des gewohnten westlichen Lebensstandards abzielen. Apokalypse meint ja nicht Enthüllung oder Offenbarung im Gegenwartsvolksmund, sondern das Ende eines bequemen Daseins am ausgeblendeten Abgrund und ganz weit hinten schemenhaft verschwommen auch den eigenen Tod. Umso bewundernswerter ist, wie genau und feinsinnig Elsbeth Arlt die beiden immerhin sechshundert Jahre voneinander entfernten Welten aufeinander prallen lässt und uns »die Krise« in ihrer ganzen lächerlichen Hilflosigkeit vor Augen führt. Es geht jedoch nicht darum, die eine Apokalypse gegen die andere auszuspielen. Wenn man so exakt und leise montiert wie es hier geschehen ist, dann geht es nicht mehr nur um das Wachrufen von Zusammenhängen zwischen den benutzten Antefakten, sondern um das Erstellen von Kontexten zwischen verschiedenen Denksysteme. Elsbeth Arlt schafft also neue Räume für uns und ein immerwährendes Kunstwerk, das stellvertretend für alle anderen in diesen Denkraum gebeten wurde und auf das wir uns immer wieder aufs Neue beziehen können. Sind wir jetzt beklommen?

aus: »Elsbeth Arlt. mich wundert's. Leinwände und Collagen zu Dürers Apokalypse«. Stadtgalerie im Elbeforum Brunsbüttel, Brunsbüttel 2009