Elsbeth Arlt
|
|
LeseprobeUnd schon ist es Montag |
E L S B E T H A R L T | Montag
Das Werk ist nicht treu. Es kontaktiert, kommuniziert, flirtet, es geht ständig neue (Un)verbindlichkeiten ein. Es ist selbständig und offen. Es ist vergänglich. Zeit bleibt Zeit. 70 Meter Länge, 22 Wandflächen, in unterschiedlicher Breite, gerade und wellenförmig geschwungen, dazwischen Glas. Matt. Der Flur ist keine zwei Meter breit. Büros mit Meeresblick zur einen Seite, zur anderen Seite ein Hang. Der Haupteingang von der Wasserseite beansprucht Platz. Ein zweiter Eingang führt zu den Parkplätzen. An der Decke verlaufen Schienen und Vorrichtungen, »Fort unter schwebenden Lasten« warnt ihre Beschriftung. Die Anlage zieht sich den Flur entlang bis in die Konverenzräume. Sie steht unter dem Schutz der Denkmalbehörde, ist Bestandteil des Ambientes. Räder laufen rund. 1910 im Herbst, - Im Herbstmanöver der Zeit - wird die kaiserliche Marineschule in Mürwik eingeweiht. Schwerpunktmäßig verankert ist die Ausbildung des Marineoffiziers-Nachwuchses an Torpedobooten. Zwischen 1933 und 1939 wird das Areal um weitere Wehrmachtsanlagen erweitert. Es ist die U-Boot-Flotte, die im kommenden Weltkrieg, unter dem Kommando von Großadmiral Dönitz, äußerst effektiv die allierten Flotten bekämpft – Seh die Schiffe ziehn, Hör den Wellenschlag -. Unter Dönitz wird 1945, im sogenannten »Sonderbereich Mürwik«, die letzte deutsche Reichsregierung tätig. Erstaunlich ist, dass Flensburg und Mürwik bei den allierten Luftangriffen glimpflich davon kommen. In Berlin hatte man schon kapituliert. Der Marinestandort Mürwik bleibt intakt und unzerstört. Nach 1945 gilt er als Quatier für die britischen Besatzungstruppen. 1956 wird das Gelände Stützpunkt der Bundesmarine.
Ein neuer Anfang muss gemacht werden. Ich habe freie Hand. Gestaltungsraum. - Einen Sommer lang -. Vor der Tür liegt die Förde, mit ihren Idyllen, der Werft, die auf den Bau von Fähren spezialisiert ist, dem Klärwerk. »Odore del mare«, heißt der Italiener und Francesco begrüßt alle. Am anderen Ufer liegt das Ostseebad in der Morgensonne und der Kollunder Wald lockt mit den Farben seiner Buchen. Irgendwo da befindet sich der kleine grüne Grenzübergang nach Dänemark. Freilichtmalerei ist nicht meine Sache. Gemälde sind hier nicht angebracht. Texte wie Inseln. Ein anderes Ufer ruft. Es antwortet die Sprache. Ich habe Zeit. Meine Auftraggeber drängen mich nicht. Ich befasse mich mit dem Gebäudeplan 1:100. Es gibt vier Berreiche, die durch Türen quer zur Laufrichtung begrenzt sind. Vier Tageszeiten. Vier Jahreszeiten. Gedichte und Zeiten. Gezeiten und Geh-Zeiten. - Es läuft der Frühlingswind - Die Poetisierung des Raumes. Im Echtermeyer (Deutsche Gedichte), von 1952 finde ich jede Menge Herbst- und Frühlingsgedichte, auch Winter- und Sommergedichte. Einige habe ich in der Schule gelernt und vergessen. Klassenarbeiten. Gedichtinterpretationen. Den Echtermeyer konnten wir behalten.
Besucher kommen in den Genuss des ersten Blickes. Die Mitarbeiter gewöhnen sich, sie haben anderes vor Augen. Zahlen und Zeiten, Bilanzen und Fristen, Buchführung. Fortbildung jeden Tag. Unternehmenssteuergesetz. Finanzgerichtsordnung und Kommentar. Umwandlungsrecht.
aus: »Elsbeth Arlt, 2009. Und schon ist es Montag.«, Hrsg.: Müller & Partner GbR Flensburg, 2010 |