Elsbeth Arlt
 

Leseprobe

mal Lust & MALGRÜNDE

Anette Hüsch
Laudatio für Elsbeth Arlt


Dorothee Bieske
Katalogtext »mal Lust & MALGRÜNDE«


Publikationen

Dorothee Bieske  |  mal Lust & MALGRÜNDE

 

»Ich grundiere meine Bilder nicht,
denn die GRUNDIERUNG genügt mir
schon als Malgrund, ist also schon
Malerei. Weitere Malgründe sind:
GESCHICHTE, LEINWAND, FARBE,
SPRACHE, KOPF und HERZ.«
(Elsbeth Arlt 1992)

 

Es sollte für einen Künstler kein Problem sein, in einem Geschäft oder Versand für Künstlerbedarf passende Malgründe zu finden; er fände dort ausreichend Leinen, Papier oder Pappe und was immer er an Materialien benötigt um loszulegen. Doch bei der Bestellung begänne bereits eine sprachliche Uneindeutigkeit. Malgrund wird häufig synonym mit Bildträger bezeichnet. Unter Malgrund versteht man darüber hinaus die Grundierung, die zwischen dem Bildträger ‒ Leinwand, Holz etc. ‒ und dem Farbauftrag liegt. Einen Malgrund könnte man aber auch metaphorisch benennen.

Elsbeth Arlt lässt es, wenn sie sich als Malerin über die sprachlichen Feinheiten und Mehrdeutigkeiten eines solchen Begriffs Gedanken macht, nicht dabei bewenden. Die Grundierung ist bei ihr, wie das oben stehende Zitat aussagt, bereits Malerei. So ist nicht von ungefähr ihr großformatiges weißes Bild mit dem Titel »Grundierung« als erstes Gemälde in diesem Katalogbuch abgebildet. Mit Finesse und Hintersinn stellt die Künstlerin ein Gewebe dar, eine Leinwand, einen Malgrund, also das, worauf ‒ und warum ‒ sie malt. Elsbeth Arlt geht ihrer Malerei gleichsam auf den Grund. Angefangen bei der GRUNDIERUNG systematisiert sie ihre Gründe zu malen, benennt ihre Motive (im Sinne von Motivation) wie GESCHICHTE, LEINWAND, FARBE, SPRACHE, KOPF und HERZ. Die Kunsthistorikerin freut sich, denn so liefert die Künstlerin die Erklärung ihrer Werke gleich mit. Doch das ist nicht alles. Elsbeth Arlt spielt auch mit der Frage, ob sie zum Malen einen »Grund« benötigt, ob die Lust zu malen schon genügt oder ob ein Malgrund reicht, wenn sie mal keine Lust hat zu malen.

Ausstellung und Buch widmen sich der Malerei Elsbeth Arlts, angefangen bei farbintensiven gestischen Gemälden der späten 1980er Jahre und endend bei aktuellen Tintenzeichnungen, die sich auf die Malgründe beziehen. Enthalten sind alle Arbeiten, die die Künstlerin dem Museumsberg 2012 schenkte. Sie werden ergänzt durch weitere Arbeiten aus den vergangenen drei Jahrzehnten, so dass sich ein repräsentatives Bild ihrer Malerei ergibt (derjenigen, die trotz aller Gründe, nicht zu malen, gemalt wurde).

Der Aufbau des Buchs ist von der Künstlerin wohldurchdacht. Während die Einteilung der Kapitel systematisch den Malgründen folgt, wird diese Struktur im Inneren eines jeden Kapitels spielerisch wieder aufgegeben. Damit widersetzt sich die Künstlerin ihrem eigenen System und jeder allzu leichten oder waghalsigen kunsthistorischen Einordnung und Deutung. Und sie ist ihr eigener Schalk, der sie vor Bierernst und normativem Denken bewahrt. Ein geradezu surrealistisches Prinzip bestimmt die Kataloggliederung, eine Unordnung in der Ordnung (oder eine Umordnung?).

Ihre Malgründe formulierte und malte Elsbeth Arlt bereits 1992 in dem oben stehenden Zitat und mit einer Reihe von großformatigen Leinwandbildern, die sie noch im selben Jahr in Plön und 1993 in der Kieler Galerie Sfeir-Semler zeigte. Dass sie zwanzig Jahre später auf ihre Systematik zurückgreift, mag verschiedene Gründe (da sind sie ja schon wieder … !) haben. Im Vorwege des Umzugs in ein neues Künstleratelier 2012 und verbunden mit ihren Schenkungen an den Museumsberg Flensburg, die Kunsthalle zu Kiel, die Stadtgalerie Kiel und das NordseeMuseum Nissenhaus in Husum war eine Durchsicht der eigenen Bilder, ein Rückblick auf das eigene Schaffen unumgänglich. Das Ordnen, Sortieren, Systematisieren ist seit Mitte der 1970er Jahre zudem konzeptioneller Bestandteil des Schaffensprozesses von Elsbeth Arlt.

In ihrem 1995 entstandenen Videofilm »Morgens um halb acht«, der in der Ausstellung noch einmal gezeigt wird, spricht die Künstlerin vor dem Stakkato des stockenden und fließenden Verkehrs auf der Straße über das tagtägliche Malen und Arbeiten in ihrem Atelier in der Angelburgerstraße. Sie redet über ihre Malgründe und über das, was sie macht, wenn sie nicht malt. Und sie spricht über das Hin- und Herpacken von Büchern und über das Hin- und Herpacken ihrer Gedanken, bis sie wieder weiß, was sie zu malen hat. Sie spricht über ihren schöpferischen Prozess.

Seit Beginn ihrer künstlerischen Arbeit strukturiert Elsbeth Arlt ihren Arbeitsablauf, ordnet nach Tagen, Monaten und Jahren, gewinnt nahezu jedem Tag ein Werk ab. Bereits während ihres Studiums an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg entstanden erste Aufzeichnungen, bei denen die Künstlerin nach einem vorher festgelegten Plan fotografierte oder Bilder, Wörter und Texte zeichnete, malte und notierte. Diesem Verfahren ist sie bis heute weitgehend treu geblieben ‒ jede Ausnahme macht die Regel umso deutlicher. Doch während es in der Konzeptkunst vor allem um die Idee und weniger um ihre Ausführung geht, findet man bei Elsbeth Arlt eine außerordentlich bedachte und sorgfältige feine Malerei.

Ein weiterer Grund dafür, einer Retrospektive und ihrer Publikation die MALGRÜNDE überzuordnen, mag sein, dass sie chronologisch und inhaltlich an zentraler Stelle im bisher entstandenen Oeuvre der Künstlerin stehen. Auf das stark von der Konzeptkunst geprägte Frühwerk folgte Mitte der 1980er Jahre eine Zeit mit farbintensiven abstrakten Bildern, wie sie 1986 in der ersten Einzelausstellung im Städtischen Museum Flensburg (heute Museumsberg Flensburg) gezeigt wurden. (1) Werke wie die in diesem Buch abgebildeten Gemälde »Skelett« und »Fisch«, beide von 1989, stehen am Ende dieser Entwicklung. Sie waren unter dem Titel »fließende Vorstellung« in der Kieler Galerie Sfeir-Semler zu sehen. Mit dem Malen und Formulieren ihrer MALGRÜNDE fand Elsbeth Arlt dann Anfang der 1990er Jahre zu ihrem eigenen Konzept, in dem Rationalität und Leidenschaft (die Lust am Malen), verschmelzen. Dieses Konzept prägt die Malerei Elsbeth Arlts seither.
Grundierung, Geschichte, Leinwand, Farbe, Sprache, Kopf und Herz sind sieben gute Gründe, ein Bild zu malen. Knut Nievers schrieb 1997 zu den Malgründen Elsbeth Arlts: » [ … ] der beste Grund zu malen ist derjenige, daß es keinen Grund zum Malen gibt.« (2) Dieser Grund ist verständlicherweise nicht darstellbar. Nicht so leicht benennbar sind außerdem Gründe, ein Bild nicht zu malen. Und nicht im Buch abbildbar sind natürlich jene Bilder, die nicht gemalt wurden ‒ aus welchen Gründen auch immer (mal Lust und mal keine Lust?).

Möglicherweise haben diese Bilder nie den Geist der Künstlerin verlassen. Wie eine Präambel steht am Beginn des ersten Buchkapitels GRUNDIERUNG die Tintenzeichnung »Leave the artist’s mind«. Elsbeth Arlt zitiert hier aus Satz 13 der 1967 erschienenen »Sentences on Conceptual Art« von Sol Lewitt: »A work of art may be understood as a conductor from the artist’s mind to the viewers. But it may never reach the viewer, or it may never leave the artist’s mind.« (3) In diesem Sinne könnte die kleine Zeichnung als eine Aufforderung an die Kunstwerke verstanden werden, nun den Geist der Künstlerin zu verlassen. Die Zeichnung ist zudem als eine Art Reminiszenz an das vor einigen Jahren aufgegebene Atelier in der Angelburgerstraße zu verstehen, das für das Arbeiten der Künstlerin eine bedeutende Rolle gespielt hat. Dort und in der 2002 im Kunstraum Düsseldorf gezeigten Installation »hope« brachte Elsbeth Arlt den Satz Sol Lewitts in gleichförmigen Buchstaben an die Wand. (4) In Kombination mit großen Wandzeichnungen erinnerte die Installation an Lewitts berühmte »Wall Drawings«, die ab Mitte der 1960er Jahre entstanden waren.

GRUNDIERUNG und LEINWAND. Die beiden 1992 entstandenen Bilder »Grundierung« und »Leinwand« wirken wie ein nah an das Betrachterauge herangeführtes Leinengewebe, wie es in der Malerei als Bildträger üblich ist. Bei einem konventionellen Gemälde wäre die Leinwand unter einer oder mehreren Farbschichten verborgen, Elsbeth Arlt hingegen stellt sie als Bildgegenstand dar und thematisiert, hinterfragt und bricht ihre rein materielle Funktion. Erst auf den zweiten Blick wird nämlich deutlich, dass die zarten vertikalen und horizontalen Linien, die die Struktur des Gewebes bilden, nicht aufgemalt, sondern aus der Farbe ausgespart sind, so dass die unbehandelte Leinwand sichtbar wird. Das Verhältnis von Bildgrund und Malerei hat sich verkehrt. Ähnlich verfuhr die Künstlerin in ihren Gemälden »Girls (Birgit)« und »Girls (Stefanie)«, die 1996 entstanden sind, nur dass hier unterschiedlich farbige Stoffbahnen miteinander verwoben scheinen. Das Unter- und Übereinander der Farben liefert zudem temperamentvolle dreidimensionale Effekte, die vielleicht auf Persönlichkeitsmerkmale der »Girls« schließen lassen. Zu diesen scheint die Künstlerin, um in der Leinwandterminologie zu bleiben, eine feste Bindung zu haben, eine Leinwandbindung. Stärker mag nur die Bindung der Künstlerin an die Leinwand selbst sein (wenn das kein Malgrund ist !).

1997 zeigte Elsbeth Arlt in einer Ausstellung in der Kieler Stadtgalerie eine Installation aus 49 von 100 Bildern mit dem Titel »Ohne Punkt und Komma«. Die Bildtexte entnahm sie einer Edition von 100 Texten, in denen es um die Vorstellung der Bilder geht. Vier Werke aus dieser Serie schenkte sie nun dem Museumsberg. Weitere 14 Bilder befinden sich in der Flensburger Stadtbibliothek. Im einheitlichen Format und mit unterschiedlichen aufeinander abgestimmten Farben malte die Künstlerin fadengleiche handschriftliche Texte. Die Leinwand spielt wieder eine eigenständige Rolle. Dort, wo die Farbe zu erwarten wäre, entsteht das Schriftbild aus der Negativform, nämlich der Leinwand mit ihrer Struktur; wie ein Faden bleibt die Schrift inmitten der umgebenden Farbe stehen. Faden und Gewebe, Textur und Text emanzipieren sich gegenüber dem eigentlichen Malmaterial Farbe.

KOPF und SPRACHE. Texte, eigene und aus Büchern, Zeitungen, Werbebotschaften und anderen Medien »herausgelesene« Wörter und Sätze sind nicht erst seit den MALGRÜNDEN Thema und Motiv in Elsbeth Arlts Bildern. Sprache wird gemalt. Immer wieder geht es um das Verhältnis von Text und Bild und darum, ob wir Bilder anders lesen als Texte. Elsbeth Arlt malt Textauszüge und Buchtitel und setzt hintersinnig auf die Kraft von Worten, Symbolen und Bildern. Kaum jemand, der z.B. den Duden in seinem typischen Einband nicht kennt ! In ihrem gleichnamigen Bild malt die Künstlerin ihn gleichsam am Boden liegend, um ihn herum drei männliche Personen, die sich vorsichtig und kümmernd wie zu einem Verletzten herunterbeugen. Wie ein solches Bild interpretiert werden kann, muss hier wohl nicht weiter ausgeführt werden ! Das Motiv der drei Männer selbst stammt aus einem Lehrbuch, einem »Sprachkurs für ausländische Arbeitnehmer«, dessen formelhafte Abbildungen mehrfach von Elsbeth Arlt aufgegriffen wurden. In ihren Gemälden »at the still point there« und »of the turning world« von 2008 kombiniert sie die verfremdeten Buchillustrationen mit Textsegmenten aus dem 1944 erschienenen Gedichtzyklus »Four Quartets« des englischsprachigen Lyrikers T. S. Eliot. Die Welt dreht sich im Kreis und die Welt dreht sich im Kopf. Der Leser des spiralförmig gemalten »Fließtextes« von Vilém Flusser im Gemälde »Das Ziel« von 1992 aus der Reihe der MALGRÜNDE verliert das Ziel schnell aus den Augen.

Den Auftakt zum Malgrund SPRACHE bildet in unserem Katalogbuch eine Zeichnung, die eine Vollmilchpackung zeigt, ihr folgt das großformatige Gemälde »gelöscht« aus der Reihe der MALGRÜNDE ‒ ist der Durst (auf Milch) gelöscht? Oder geht es um das Signet des Milchproduzenten, das auf Wiedererkennbarkeit zielt ebenso wie das Verlagssignet oder der Duden ein paar Seiten weiter? Wird etwa die Sprache selbst gelöscht und kann man das überhaupt? Können Bücher, Romane, Gedichtbände, Texte gelöscht oder »makuliert« werden, wie es in dem gemalten Verlagssignet »Who’s who« anklingt? Den Assoziationen sind kaum Grenzen gesetzt, die Bezüge sind subtil, manchmal ironisch. Der Betrachter begibt sich aufs Glatteis, wenn er aber ins Gleiten kommt und sich auf die Bezüge einlässt, gelangt er in eine Art Schwebezustand, von dem aus er eine Ahnung bekommt, wie raffiniert und komplex das malerische Werk Elsbeth Arlts über die Jahrzehnte ist.

GESCHICHTE. Reduziert man Text, Sprache und Schrift auf das formal Notwendige, auf das, was Rhythmus und Struktur gibt, landet man automatisch bei den Zeichen. Das Hansano-Logo setzt ebenso wie die von Bucheinbänden und Vorsatzblättern abgemalten und bearbeiteten Verlagssignets und der seit Jahrzehnten unveränderte Schriftzug des Duden auf Wiedererkennbarkeit und Werte. Es sind über die Zeit hinaus bestehende Zeichen, die man auch nicht so ohne weiteres löschen kann. Zeichen stehen für Sinnzusammenhänge. Auch Satzzeichen wie Punkt und Komma, wie Elsbeth Arlt sie in den Gemälden »Est Komma« und »Polke Komma« oder »Fragezeichen« vorkommen lässt, haben nicht nur im Zusammenhang dieser Gemälde eine zeitliche Dimension. Sie steuern in der Regel das Tempo des Leseflusses, auch wenn sie selbst meistens überlesen werden. Elsbeth Arlt gibt ihnen in ihren Bildern ihre Bedeutung zurück, hier erzählen sie selbst eine Geschichte.

Spielt man gedanklich mit dem Faktor Zeit und dem Malgrund GESCHICHTE, kann es nämlich um ganz unterschiedliche Bedeutungen von Geschichte gehen, der Begriff lässt einige Möglichkeiten offen: Ist es die Geschichte als Historie? Handelt es sich um eine schön erzählte Geschichte oder eher um eine Geschichte aus dem Alltag? Bei einer Künstlerin kann man auch Bezüge zur Kunstgeschichte vermuten. Oder geht es um ihre ganz persönliche Geschichte? So können die Bilder Elsbeth Arlts sich z.B. auf einen Ausschnitt aus einer historischen Helgolandkarte (»Est Komma«, 2006) beziehen, auf ein Kunstmagazin (»Polke Komma«, 2006) oder auf eine Zeichnung aus Friedrich Schinkels »Reisen in Deutschland« (»Schinkel &«, 2006). Prosaischer mutet der »Wertstoffkalender« von 1998 an, den der Museumsberg vor einigen Jahren von der Künstlerin erworben hat. Er bezieht sich formal auf den Abfuhrplan für recycelbaren Müll, dessen kalendarischer Rhythmus für die Künstlerin mit ihrer Lust zu ordnen und zu strukturieren ein gefundenes Fressen gewesen sein muss. Der »Wertstoffkalender« gehört wie das Gemälde »Blue Planet« von 1999 zu einer Reihe von Bildern (»Temporale Muster«), in denen Elsbeth Arlt sich mit Zeitrastern und Chronologien beschäftigte.

In ihrem großformatigen Gemälde »Geschichte«, 1992 benutzt die Künstlerin ein Zitat des großen surrealistischen Dichters André Breton, dessen 1924 erschienenes »Manifest des Surrealismus« die Weltanschauung vieler Künstler prägte. Breton beschwört darin die ordnende und ausgleichende Kraft der Poesie. Elsbeth Arlt breitet den Textauszug in gemalten Wörtern über die ganze Leinwand aus, Wort und Bild gehen eine Symbiose ein ‒ der gemalte Pinsel mit den darauf in Leinwandfarbe gemalten Buchstaben hebt dies noch einmal hervor. Persönliche Geschichte berühren z.B. die Gemälde »Ich, Ich« und »Den ganzen Raum«, die auf die Aufzeichnung »BERLINCHEMIE« zurückgreifen. Während eines Arbeitsaufenthaltes in Berlin von Dezember 1996 bis Februar 1997 notierte die Künstlerin auf Vorsatzpapieren ausgelesener Bücher jeden Tag einen Text und ein Bild. Daraus entstand eine Arbeit mit insgesamt 90 Doppelseiten, die der Museumsberg Flensburg 2004 aus der Ausstellung »jeder Tag ist anders« erworben hat und seither erstmals vollständig im Schleswig-Holsteinischen Landtag zeigt.

FARBE. Sind Bücher oder Buchseiten ein Malgrund? Können sie ausgelesen oder gar gelöscht werden? Die Frage wurde bereits gestellt. Was ist mit ihren Inhalten: ausgelesen, ausgemustert, aus und vorbei? Bereits in ihrer Installation »einfach ROT« in der St. Petri Kirche in Lübeck 1989 verwendete Elsbeth Arlt Bücher aus gelöschten Beständen der Flensburger Bücherei. Verleimt und mit roter Farbe bemalt inszenierte sie 400 Bücher auf dem in Reihen aufgestellten Gestühl im Mittelschiff der Kirche. Eine Sammlung an einem Ort der Sammlung. Gelöschte Bücher in einem Raum, in dem traditionsgemäß Anfang und Ende geehrt werden. Mit ihnen korrespondierten in changierenden Rottönen 12 Gemälde an den Wänden der Kirche. Die Bilder zeigen einen freien und gestischen Umgang mit der Farbe und scheinen mehr der Intuition als der Überlegung zu folgen. Leicht lassen sie sich auch mit dem Wort Mallust verbinden. Die Installation von Büchern und Bildern in der St. Petri-Kirche zeigt jedoch auch, wie sehr sich impulsiver Ausdruck und konzeptuelle Kontrolle und Ordnung die Waage halten. Das zu dieser Installation gehörende Gemälde »Spirale« vereint beide Elemente: Die mit signalroter Farbe in breiten horizontalen Streifen bemalte Leinwand und die schwungvolle Aufwärtsbewegung einer Spirale finden zu einer dynamischen, gleichwohl konzentrierten Spannung. Interessanterweise spielte die GESCHICHTE in diese Ausstellung hinein: Denn sie fand im historischen Augenblick der Wende statt, als die Grenzen zwischen Ost und West fielen, ein Ende und ein Anfang. (5)

Am Anfang war das Rot. (6) Rot steht für Aktivität, Aggressivität, Erotik, Leidenschaft, Wärme, Zorn und Wut und besitzt vielleicht den größten Aufforderungscharakter, Rot ist die Farbe schlechthin. Man muss kein Fußballfan sein um zu begreifen, was »Die rote Karte« bedeutet, so der Titel eines Gemäldes von Elsbeth Arlt; auch der rote Faden, das rote Tuch und das rote Kreuz belegen die immanente Kraft der Farbe Rot.

HERZ. In diesem letzten der MALGRÜNDE ist alles mit allem vereint: Grundierung, Geschichte, Leinwand, Farbe, Sprache, Kopf und Herz sind wie ein gewebter Stoff, wie ein strapazierfähiger Malgrund miteinander verbunden. Denn alles in allem verbinden sich in den Gemälden Elsbeth Arlts Schrift und Malerei zu Bildern, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Bei aller Ernsthaftigkeit und humorvollen Hintergründigkeit scheint es mir aber neben der »Mallust« auch um die Faszination durch Kunst und Literatur zu gehen. So ist es sicher kein Zufall, dass der Malgrund HERZ am Ende des Buchs steht: Hier geht die Künstlerin auch dem »Herz« auf den Grund, dreht und wendet es in verschiedenen Ansichten auf einer karminrot bemalten Leinwand, aus der die Motive ausgespart sind und eine rückseitige Malerei durchschlägt. Hier findet man die Koordinaten ihrer Kunst. Rom, als Sehnsuchtsort aller Maler des Nordens. Im gemalten Buchcover eines Reiseführers wird es zur Copy der Sehnsucht. Flensburg als Wohnort auf dem Malgrund eines städtischen Handtuches. Hier kreist der Adler über der brennenden Stadt und ruft: weh weh weh, eine Konfrontation des Alltags mit Dürers Apokalypse. Der Sprachort (Zufluchtsort) Gertrude Stein, deren Worte, Sätze, Texte bildtauglich sind. Sie verharren nicht in der Bedeutung, sondern bewegen sich, öffnen und schließen sich und nutzen nicht ab. Im Beziehungsort wird mit dem Bild »Girls (Stefanie)« auf persönliche Beziehungen verwiesen. Im Muster versteckt geben sie ein Bild biografischer Verflechtungen. Vielleicht steht deshalb am Ende des Buchs neben einem Text von Roland Barthes über »Die Lust am Text« ein kleines Zitat aus einem Song von Laurie Anderson »This is the language of my heart« ‒ was dieses Katalogbuch zu einem Bekenntnis zur Malerei werden lässt.

»Es gibt eine Vielzahl von Gründen
ein Bild nicht zu malen.
Ebenso gibt es eine Vielzahl von Gründen
die Gründe nicht hier zu benennen.
Dies ist schließlich ein Buch
in dem die gemalten Bilder gezeigt werden.
Es sind die Bilder, die trotz
der Vielzahl der Gründe ein Bild
nicht zu malen gemalt wurden.«
(Elsbeth Arlt 2013)

 

(1) Elsbeth Arlt. Bilder, Katalog zur Ausstellung Städtisches Museum Flensburg und Galerie Sfeir-Semler, Kiel 1986.
(2) Knut Nievers, Vastehste? Soda oder Sowiesoda ! In: Elsbeth Arlt. SODA, Publikation zur Ausstellung Stadtgalerie im Kulturviertel / Sophienhof, Kiel 1997, S. 9.
(3) Sol Lewitt, Sentences on Conceptual Art, 1967, zit. nach Rolf Wedewer /Konrad Fischer, conception, Köln 1969 (»Ein Kunstwerk kann als Leiter vom Geist des Künstlers zu dem des Betrachters verstanden werden. Aber möglicherweise erreicht es nie den Betrachter, oder es verlässt nie den Geist des Künstlers.«).
(4) Vgl. Elsbeth Arlt. Hope, Kat. zur Ausstellung im Kunstraum Düsseldorf 2002.
(5)Vgl. die Auszüge aus dem Besucherbuch in: Roswitha Siewert, Raumdialoge. Gegenwartskunst und Kirchenarchitektur, Lübeck 1993, S. 165 ‒ 172.
(6) Eva Heller, Wie Farben wirken, Reinbek bei Hamburg 1999, 6. Aufl. 2011, S. 51.

aus: Elsbeth Arlt, »mal Lust & MALGRÜNDE«. Hrsg. Museumsberg Flensburg und Elsbeth Arlt, Flensburg 2013,
S. 9-17.